Weihnachtsgeschichte: "Advents-und Weihnachtszeit 1948"

Wie war Weihnachten 1948? Was wünschten sich die Kinder am meisten? In dieser Weihnachtsgeschichte findest du die Antworten dazu. Wir wünschen dir viel Freude mit dieser Geschichte und ein wunderschönes und besinnliches Fest!

Advents- und Weihnachtszeit 1948

Wie jedes Kind freute sich die siebenjährige Lieselotte auf die Adventszeit und das Weihnachtsfest. An der Wand hing ein Adventskalender mit 24 zu öffnenden Fenstern. Dieses Jahr war er besonders schön, denn an den Rändern hatte er silbernen Glitzerstaub und sah richtig edel aus. Das Bild zeigte eine Schneelandschaft mit einem großen Tannenbaum, auf dem viele Kerzen waren, die zu brennen schienen, denn sie waren von einem gelben Lichtschein umgeben.

Ab dem 1. Dezember konnte man täglich ein anderes Fenster öffnen – immer schön der Reihe nach von 1 bis 24 – und sich stets über ein anderes Bild freuen, das sich dahinter verbarg. Mal war es ein Apfel, eine brennende Kerze, eine Puppe, ein Tannenzweig mit einer Kugel dran, ein niedlicher Teddybär, ein Auto, eine kleine Lokomotive usw. Wenn man den Kalender gegen das Licht hielt, leuchteten die Motive aus den geöffneten Fenstern. Das größte Fenster mit der Nummer 24 war doppelt so groß wie die anderen. Lieselotte konnte es nicht lassen und öffnete es vorsichtig, um hineinzuschauen. Da stand ein Tannenbaum mit brennenden Kerzen, davor lagen viele Pakete. Danach ärgerte sie sich über ihre ungezügelte Neugier, weil sie sich selbst die Überraschung genommen hatte, und nahm sich vor, es im nächsten Jahr nicht wieder zu tun.

Der erste Höhepunkt des Monats war zu Nikolaus am 6. Dezember. Am Abend vorher stellte sie einen weißen Porzellanteller vor das Stubenfenster und hoffte, dass am nächsten Morgen ein paar Leckereien darauf liegen würden. Sie glaubte nicht mehr an den Nikolaus und Weihnachtsmann, aber es war trotzdem spannend.

Am nächsten Morgen tippelte sie zum aufgestellten Teller und fand dort eine aus hellem Keksteig gebackene Figur. Sie erinnerte in Form und Farbe sehr an einen Schneemann. Das Männeken hatte Rosinenaugen und drei Mandeln als Mund, der freundlich zu lächeln schien. Lilos Mutter hatte es selbst gebacken. Sie fand es etwas verunglückt, weil es eigentlich kein Schneemann werden sollte, aber für Lieselotte war die Figur wunderschön. Sie zögerte das zerstörerische Werk mit ihren Zähnen lange hinaus, obwohl ihr das Wasser im Mund zusammenlief, wenn sie ihn betrachtete.

In der Schule wurde täglich vor dem Unterricht zum Auftakt das Kopfrechnen geübt. Wenn die Lehrerin den Klassenraum betrat, mussten alle Kinder aufstehen. Nach der Begrüßung stellte sie Rechenaufgaben, die von den Kindern zu lösen waren. Wer das richtige Ergebnis gesagt hatte, durfte sich setzen.

In der Vorweihnachtszeit wurde anstelle des Rechnens jeweils ein Weihnachtslied gesungen. Am liebsten sang Lieselotte „Ihr Kinderlein kommet“. In der zweiten Strophe, die mit „Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh“ beginnt, muss es in der letzten Zeile heißen: „Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor“. Ihre Banknachbarin sang an der Stelle immer voller Inbrunst: „Hoch oben schwebt Josef den Engeln was vor“, was Lilo an ihrer eigenen Interpretation zweifeln ließ und weshalb sie manchmal den Text des anderen Mädchens mitsang. Der Lehrerin fiel das nie auf.

Eines Tages brachte die Lehrerin ein Paar kleine, niedliche Lackschuhe mit in die Schule. Die waren aus Amerika. Verwandte hatten ihr ein Care-Paket geschickt, in dem sich außer Lebensmitteln die Kinderschuhe befanden. Da die Lehrerin zwei Söhne hatte, fanden die Schuhe keine Verwendung in ihrer Familie und sie wollte sie eine ihrer Schülerinnen schenken. Sie suchte ein paar kleine Mädchen mit zierlichen Füßen aus, die sie anprobieren durften. Lieselotte mit ihren breiten Füßen war natürlich nicht dabei. Nur einer Kleinen mit sehr schmalen Füßen passten sie. Dieses Mädchen bekam die schönen Lackschuhe und hätte sie am liebsten gleich angezogen. Aber es war Winter und die Schuhe waren nur im Sommer zu tragen. Noch niemals hatte Renate, die neue Besitzerin, so schöne Schuhe gesehen. Sie ging strahlend und überglücklich mit den Prachtstücken im Tornister nach Hause und wurde von allen Mädchen der Klasse glühend beneidet.

In den Unterrichtspausen erzählten sich die Kinder gegenseitig ihre sehnlichsten Weihnachtswünsche. Die Bandbreite war sehr groß und ging von sehr bescheiden bis größenwahnsinnig. In dem Alter können Kinder noch nicht abschätzen, was machbar ist. Lilo wünschte sich ein Fahrrad oder einen Puppenwagen, ein anderes Kind einen Ball. Die Wünsche waren umfangreich und vielfältig: Schlitten, Schlittschuhe, Puppen, Kaufmannsladen, Gesellschaftsspiele und vieles mehr. Ein Flüchtlingsmädchen wünschte sich ein eigenes Bett. Sie musste sich ihre Schlafstätte mit einer älteren Schwester teilen.

Wünsche konnte man äußern, aber die wenigsten werden in Erfüllung gegangen sein. Die meisten Leute, besonders die Flüchtlinge, hatten andere Bedürfnisse, als Spielzeug für ihre Kinder zu kaufen. Man war froh, wenn man sich hin und wieder den Magen füllen konnte und genug Bekleidung hatte. Es war nur sehr wenig Geld vorhanden und für den Bezug von Lebensmitteln, Bekleidung, Heizmaterial usw. gab es Bezugsscheine, die man zusätzlich zum Geld bei jedem Kauf abzuliefern hatte. Um die knappe Ware ziemlich gerecht an die Bevölkerung zu verteilen und Hamsterkäufe zu verhindern, hatte der Staat diese Maßnahme ergriffen. So gab es vorwiegend Nützliches wie Mützen, Handschuhe, Schals – alles Dinge, die fleißige Hände selbst herstellen konnten. Dazu wurde mancher alte Pullover, der zu klein geworden war oder aus anderen Gründen nicht mehr benötigt wurde, aufgeribbelt und die gewonnene Wolle geglättet und neu verstrickt.

Viele Frauen entdeckten in der Nachkriegszeit ungeahnte Talente an sich. So auch Lilos Mutter. Abends nach Feierabend klapperte sie mit den Stricknadeln und machte für ihre Tochter eine warme Mütze mit eingestrickten springenden Hirschen, dazu ein Paar Handschuhe, auf denen ein Stern prangte, und einen warmen Schal. Strümpfe wurden das ganze Jahr über von den Frauen gestrickt.

Lilos Oma hatte eine olivfarbene Ami-Wolldecke aus Armeebeständen der Besatzungsmacht ergattert und für ihre Enkelin eine lange Hose geschneidert, damit sie sich nicht wieder ihre empfindliche Blase erkältete. Bald stellte sich heraus, dass Lieselotte sie nicht auf der Haut vertrug. Dort, wo die langen Strümpfe endeten, hatte der harte Stoff ihre Oberschenkel blutig gescheuert. Aber Oma wusste Rat. Wie schon so oft mussten ihre ausrangierten Seidenstrümpfe herhalten. Sie schnitt von einem Strumpfpaar mit Laufmaschen den Fuß und die Wade ab und nähte den Rest in den oberen Teil der Hosenbeine und machte das winterliche Kleidungsstück dadurch angenehm weich und für Lilo tragbar.

Omas fleißige Hände stellten auch neue Puppenkleider her. Die vielen Stoffreste der selbst genähten Kleidung langten allemal aus für eine Puppe. Da der Puppenkopf aus Zelluloid ein ziemlich großes Loch im Oberkopf aufwies, wurde beschlossen, dem demolierten Haupt Haare zu verpassen. Oma wandte sich an den Puppendoktor im Ort, wo um diese Zeit Hochkonjunktur herrschte. Der erklärte sich bereit, der Puppe eine Perücke zu verpassen, wollte aber die Haare geliefert bekommen. Omas Nachbarin ließ sich den langen, dicken, dunkelblonden Zopf abschneiden und stiftete ihn für den Puppenkopf.

Am Heiligabend konnte Lieselotte nicht abwarten, bis es Nachmittag wurde. Oma und Opa waren gekommen und sie gingen gemeinsam zur Kirche, wo die großen Kinder das Krippenspiel aufführten. Dazu spielten die Mädchen die Engel und hatten deshalb ihre Zöpfe geöffnet, sodass die langen Haare in sanften Wellen herunterfielen. Auf dem Kopf trugen sie einen silbernen Reif, an dem vorn ein Stern prangte. Das lange weiße Kleid sah nach einem Nachthemd aus und war mit Silbersternen beklebt. Lieselotte war fasziniert und fand die Mädchen wunderschön. Sie stellte sich vor, dass sie in einiger Zeit auch als Engel in die Kirche einziehen würde.

Die Kirchenbesucher sangen einige Weihnachtslieder. Lilo war froh, dass sie alle vom Üben in der Schule kannte, und sang kräftig mit. Nach dem Kirchgang eilte man nicht gleich nach Hause, sondern ging noch ins Pfarrhaus, wo die Frau des Pastors und ihre Helferinnen den Kindern kleine braune Papierspitztüten mit Pfeffernüssen überreichten und den Erwachsenen ein paar gute Wünsche mit auf den Weg gaben.

Im Jahr davor hatte jedes Kind genau zehn kleine viereckige Kaugummiplätzchen in die Hand gezählt bekommen, die herrlich nach Pfefferminz schmeckten. Man ermahnte die Kinder, sie nicht hinunterzuschlucken. Bislang war Kaugummi bei der deutschen Bevölkerung völlig unbekannt. Es war zu Weihnachten von dem Amerikanern gespendet worden. „Frohe Weihnachten!“, hörte man ringsum. Dann machten sich die Leute auf den, Heimweg. Die Pfeffernüsse dufteten verführerisch aus der Tüte. Lieselotte lief das Wasser im Mund zusammen, aber sie blieb standhaft, weil die Mutter sie ermahnte, sie für später aufzuheben.

Zu Hause angekommen, warteten Würstchen und Kartoffelsalat auf sie, den die Mutter schon morgens vorbereitet hatte. Für die Würstchen hatte sie Fleischmarken aus den zugeteilten Lebensmittelkarten gesammelt.

 „So, wir gehen jetzt in die Stube. Du darfst erst kommen, wenn ich geklingelt habe“, sagte sie und verschwand mit ihren Schwiegereltern in dem kleinen Raum. Lilo saß in der kalten Küche und wartete ungeduldig auf das Klingeln des Glöckchens.

In der Stube war es warm und der kleine Tannenbaum, der in der Ecke auf einem Tischchen stand, verströmte einen betörenden weihnachtlichen Geruch. Die Mutter zündete die Kerzen an, während Oma ihre selbst genähten Gaben ausbreitete. Die Kerzen hatte man einem kleinen Flüchtlingsmädchen an der Haustür abgekauft. Deren Familie hatte diese zur Aufbesserung der Weihnachtskasse in gesammelten Patronenhülsen selbst gegossen.

Endlich hörte Lieselotte ein leises Klingeln. Als sie erwartungsvoll die Stube betrat, war sie überwältigt vom Anblick des Bäumchens. Sie strahlte mit den brennenden Kerzen um die Wette. Der Tannenbaum war mit bunten Kugeln und gebastelten Strohsternen sowie kleinen weißen Watteflöckchen geschmückt und sah wunderhübsch aus. Dann fiel ihr Blick auf einen weißen Puppenwagen aus Korbgeflecht. Den oder noch mehr ein Fahrrad hatte sie sich sehnlich gewünscht.

Der Wagen hatte ein Verdeck und war mit blauem Stoff ausgeschlagen. Darin saß ihre alte Puppe, der jetzt auf wundersame Weise lange, dunkle Haare gewachsen waren. Sie waren zu zwei Zöpfen geflochten, als Affenschaukeln nach innen eingeschlagen und mit zwei Schleifen fixiert worden. Das Loch im Kopf war vollständig von den Haaren bedeckt. Lilo hatte ihre alte Puppe gar nicht erkannt.

Erst als ihre Mutter fragte: „Na, wie findest du deine Puppe mit ihren Haaren?“, ging dem Mädchen ein Licht auf. Es war nicht einfach gewesen, den Puppenwagen zu erstehen. Er hatte Lilos Mutter einige Stangen Zigaretten gekostet, die sie immer als Deputat von den Amerikanern bekam, bei denen sie zu der Zeit arbeitete. Da sie Nichtraucherin war, benutzte sie die Rauchwaren als Tauschware. Als sie den Puppenwagen eintauschte, sah er etwas schäbig aus. Aber mit weißer Farbe hatte man die ramponierten Stellen dick übergepinselt und dem gesamten Objekt mit dem Anstrich eine neue Optik verpasst.

Lilo entdeckte auch die neuen Puppenkleider, die auf dem Gabentisch lagen, und die lange Hose für kalte Wintertage. Sie sah die kunstvoll gestrickten Handschuhe, Mütze und den Schal. Aber die Bekleidungsstücke hatten nicht einen so hohen Stellenwert für sie. Viel interessanter waren die Spielsachen. Einen bunten Teller mit Nüssen, Keksen und Zuckerkringeln sowie zwei in Seidenpapier eingewickelten Apfelsinen hatte sie auch bekommen. Sie legte die Pfeffernüsse dazu und fühlte sich unglaublich reich beschenkt – wie eine Königin. Das war sie auch, denn als Einzelkind brauchte sie nicht zu teilen.

Inzwischen waren die Schaufenster zwar wieder gefüllt und man konnte viele Dinge kaufen, die es in der Zeit davor nicht gegeben hatte, aber den Menschen fehlte das Geld. Nach der erfolgten Währungsreform bekam jeder nur ein geringes sogenanntes Kopfgeld, das nicht mal fürs Nötigste reichte. Deshalb konnten viele Kinder nicht so üppige Geschenke – wenn überhaupt – in Empfang nehmen. Außerdem brauchte man für alles die Bezugsscheine.

Das betraf besonders die Kinderreichen und die Flüchtlingsfamilien. Die mussten viel bescheidener Weihnachten feiern. Einige mögen froh gewesen sein, beieinander zu sein und ein Dach über dem Kopf sowie eine warme Stube zu haben. Dass das nicht selbstverständlich war, hatten die Flüchtlinge bei ihrem langen Marsch durch die eisige Kälte vor ein paar Jahren am eigenen Leib erfahren müssen.

Der größte Weihnachtswunsch der Familie war leider nicht in Erfüllung gegangen. Sie hatten alle gehofft, dass Lieselottes Vater, an den sich die Tochter nicht erinnern konnte, aus der Kriegsgefangenschaft kommen würde. Er war immer noch in Sibirien und hatte sich bestimmt das Gleiche gewünscht.

Ein Jahr später, 1949, konnte auch er das Weihnachtsfest in der Heimat im Kreise seiner Familie feiern.

Elke Abt

Download
Geschichte ausdrucken:
weihnachtsgeschichte_1948.pdf
Adobe Acrobat Dokument 209.3 KB

Seite 10 von 17


Deine Vorschläge: Du hast eine schöne Weihnachtsgeschichte geschrieben und würdest dich freuen, wenn diese hier veröffentlicht wird? Dann schicke sie uns gerne zu, Wir freuen uns auf deine Post.